Landbote: Musik statt Straße

Seit zehn Jahren aktiv

von Ursula Wöll erschienen auf landbote.info

Jelio mit Akkordeon, Gergana am Klavier, Mischko mit Geige. Alle üben sehr konzentriert und hingegeben. Sie wohnen in der bulgarischen Stadt Sliven und sind arm. Die Musikinstrumente haben sie von „Musik statt Straße“ bekommen. Der Geiger Georgi Kalaidjiev ist Konzertmeister am Giessener Stadttheater und selbst in Sliven geboren. Er und seine Gefährtin Maria Hauschild haben das Projekt angestoßen. Pro Jahr erhalten 30 Kinder eine Geige, Klarinette oder ein anderes Instrument, dazu kostenlosen Unterricht in klassischer Musik und warmes Essen an den Übungstagen. Der Fotograf Rolf K. Wegst fuhr nach Bulgarien und fotografierte die Kinder. Die Bilder sind nun im Giessener Rathaus ausgestellt. Außerdem kommen einige der Kindermusiker in persona zum Stadtfest nach Giessen.

 

Die finsteren Ecken der EU 

Bei der Vernissage der Ausstellung schilderte der Fotograf die Lebensbedingungen der Kinder. Sie wohnen alle in dem Roma-Ghetto „Nadeshda“ von Sliven. Hier drängen sich 20 000 Roma in Armut und Perspektivlosigkeit auf engstem Raum. Die Stadt hat eine Mauer um diesen Stadtteil errichtet. Raus oder rein kommt man nur durch eine dunkle, gruselige Unterführung. In Sliven ist das Zigeunerleben also alles andere als lustig. Nicht nur hier, die Roma werden auch anderswo diskriminiert, obwohl sie EU-BürgerInnen sind. Ja, Bulgarien ist EU-Mitglied! Fotograf Wegst konnte sich nur wundern, dass die finsteren Stellen unterm Sofa der EU so verdrängt werden. „Mittlerweile erhielten viele Kinder eine Chance durch das nun 10 Jahre alte Projekt, die sie voll genutzt haben.“ Etliche haben es aufs Konservatorium geschafft und einige unterrichten sogar schon selbst.

„Nadesha“ heißt Hoffnung 

Angefangen hatte alles mit dem Vater von Maria Hauschild. Er hinterließ einen Umschlag mit mühsam ersparten Geld, auf dem stand: „Für arme Kinder“. Was lag da näher als an die Kinder von Sliven zu denken? War doch ihr Lebensgefährte Georgi Kalaidjiev selbst in Sliven geboren. Zunächst linderten beide mit dem Geld nur die größte Not. Aber sie wollten den Kindern eine dauerhafte Perspektive bieten. Die Jungen von der Straße holen, die Mädchen vor zu frühen Ehen bewahren. So entstand das Musikprojekt. Mit der Unterstützung vieler Leute aus Giessen und anderswo. In den 10 Jahren des Bestehens erreichte es hunderte von Mädchen und Jungen. Dabei war und ist die Musikpädagogin Radka Kuseva aus Sliven eine unschätzbare Hilfe. Durch die erfahrene Wertschätzung und das in sie gesetzte Vertrauen entwickeln die jungen MusikerInnen Selbstvertrauen. Denn das Beste der Musik steht nicht in den Noten, das wusste schon Gustav Mahler. Aktives Musizieren bietet soziale Kontakte, gibt Halt und eröffnet den Kindern eine neue Welt. Hoffnung und Mut werden eigenständig weitergegeben und vervielfachen sich dabei. „Aus dem letzten Wunsch meines Vaters ist ein Projekt entstanden, das Kinder stark macht und ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht“, so Maria Hauschild.

Die Ausstellung läuft noch bis Ende August 2019, Rathaus Berliner Platz. Am Freitag, 16. 8., 19 Uhr gibt es ein Galakonzert mit den bulgarischen Kindern und der Musikschule Giessen, Levi-Saal im Rathaus, Erdgeschoss. Am Samstag, 17. 8., 12 Uhr, Eröffnungskonzert zum Tag der Kulturen, Platz vor der Kongresshalle Giessen. Ebenfalls Samstag, 17. 8. ein Konzert in der Ev. Kirche Annerod, um 19 Uhr. Sonntag, 18. 8., 15 Uhr, Konzert im Traumsternkino, Lich, Giessener Str. 15.